Die größte Peinlichkeit der Coronakrise

Die Geduld der Politik ist bemerkenswert, mit der sie die Entwicklung einer Tracing-App zur Ermittlung von Infektionsketten verfolgt. Während das Leben so gut wie stillsteht, reihenweise Grundrechte eingeschränkt werden und von einer Situation die Rede ist, die es seit 1945 nicht mehr gegeben habe, macht die Speerspitze des digitalen Zeitalters was? Sie ergeht sich im Nerd-Gezänk, das über den Tellerrand ihrer selbstverliebten Überwachungshysterie nicht hinausreicht. Die App entwickelt sich zur größten Peinlichkeit der Coronakrise.

Der „Chaos Computer Club“ hat sicher recht, wenn er in seinem Offenen Brief darauf hinweist, dass eine dezentrale Speicherung der Daten die Variante wäre, die mehr Sicherheit vor unbefugtem Zugriff böte. Worauf der Club nicht eingeht, sind die Wünsche der Epidemiologen an eine solche App – dezentral sind sie auf die Schnelle nicht zu verwirklichen.

Ebenso wenig gehen die Kritiker des europäischen App-Projekts darauf ein, dass datenschutzrechtliche Scheuklappen nicht dazu angetan sind, das Virus effektiv zu bekämpfen. Was wohl die Gesundheitsämter dazu sagten, wenn bei ihrer verzweifelten Suche nach Infektionsketten Datenschutz vor Infektionsschutz ginge?

Im Argument, die App werde aber nicht genutzt, wenn sie Datenschutz vernachlässige, steckt pure Angstmacherei. Denn die Stichworte „China“ und „Südkorea“ laufen ins Leere – es gibt europäische Staaten, die eine App entwickelt haben und keine Überwachungsstaaten sind. Das Bedürfnis, das Corona-Virus zu besiegen, ist zudem übergroß. Schon aus Selbstschutz würde die App als Geschenk des Himmels wahrgenommen.

Eine App böte die Möglichkeit, Lebensweisen wieder zuzulassen, die vorerst verantwortungslos sind. Auch deshalb überrascht es, dass weder die Verfechter von Lockerungen noch die Gegner einer „Öffnungsdiskussionsorgie“ die Möglichkeiten der App entdeckt zu haben scheinen. Nicht zuletzt die Kommunen sehnen die App herbei, um besser auf die „zweite Welle“ vorbereitet zu sein.

Wie hoch muss die Zahl der Infizierten erst sein, damit die App-Strategen endlich zur Vernunft kommen? Wenn es stimmt, dass nur mit Google und Apple eine taugliche App in Sicht ist – dann eben mit Google und Apple. Aber schnell sollte es gehen. (Frankfurter Allgemeine)

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